Samstag, 1. Mai 2010

9 Tage Europa - Mein Ausschlag

Ist Händeschütteln der übliche Dermatologengruß?

Als mir der Hautarzt die Hand zum Gruße reicht ahnt er noch nicht, dass mein Ausschlag auch an den Händen sich als Schwellung zeigt. Millionen roter Punkte überziehen außerdem meine Rumpfvorderseite und immense Beulen die hintere. Dazu die Monsterpratzen.

Vermutlich bereut er nun, mir die Hand geschüttelt zu haben, doch seine Angst scheint geringer zu sein als meine. „Wird schon wieder, wenn nicht, kommst halt wieder“; lautet seine Empfehlung. Als er mir dann das Medikament verschreibt beweist er sein psychologisches Können indem er sich gekonnt des Plazeboeffekts bedient: „dies sei das neueste Präparat und besser als alle übrigen.“ Könnte sein, dass auf die Medikation als einzige zu erwartende Nebenwirkung Müdigkeit auftritt, wobei für diese Tabletten damit geworben wird, dass es hierbei zu eben keinen Schläfrigkeitssymptomen komme…
Das Präparat tut ohnehin seine Wirkung, doch ein Arzt ist kein Tablettenverkäufer, nicht dazu da, bloß ein Rezept auszustellen. Mein neuer Arzt versteht es wirklich, auf den Patienten einzuwirken wie ein Schamane, er versteht sein Handwerk, die Heilkunst!

Es ist also nicht die Pest, die in mir wieder ausgebrochen ist – aber was verdammt nochmal ist’s denn?

Und woher kommt es?

Chronologisch rekapituliere ich die letzten 10 Tage und versuche mich an alles zu erinnern, was nicht meinen üblichen Gewohnheiten entsprach. Irgendwo muss doch die Ursache zu finden sein.

Die Umstellung meines Waschmittels von ‘irgendein Waschmittel’ auf Waschnüsse liegt schon länger zurück und kann daher in keinem Kausalzusammenhang mit dem gegenwärtigen Problem stehen. Außerdem denke ich doch, robuster zu sein und nicht schon von einer nassen Nuss krank zu werden. Habe ich doch unter meinen Freunden damit geprahlt, mein Waschwasser könne getrost getrunken werden. – Hätte ich nie gemacht, zumindest nicht nüchtern wenngleich mein Waschabwasser tatsächlich nur aus Rückständen von Schweiß, Straßenstaub und Waschnüssen besteht. Ich werde beginnen, damit meine Blumen zu gießen, dann einen Fisch darin schwimmen lassen und erst wenn der’s übersteht werde ich daran denken es zu trinken.

Nein, also nicht das Waschmittel.
Aber was dann?

-10

Psychischer Stress.
Kann psychischer Stress der Auslöser für meinen Ausschlag gewesen sein? Sicher. Könnte sein. Also war’s nach dem Interrailticketkauf am Bahnschalter! Dort wurde mir gesagt, ich bekäme eine 50%-Ermäßigung auf Österreichischen Bahnstrecken und würde in ganz Europa gratis Zugfahren können. Nachtzüge, welche vor Mitternacht abfahren, werden erst am nächsten Tag gerechnet. Mein Nachtzug fuhr in Salzburg um 19:51 ab. Richtung München wo ich umzusteigen hatte um weiter nach Paris zu kommen. Der Schaffner meines ersten Nachtzuges erklärt mir nun, dies sei kein Nachtzug weil er nicht über den Tageswechsel fährt. Also bloß ein Abendzug. Erst der Zug von München nach Paris sei ein Nachtzug. Und mein Ticket gilt erst ab morgen – weil Nachtzüge erst am nächsten Tag… – dachte ich.
Hätte mich die Interrailticketverkäuferin nicht darauf aufmerksam machen können?

Zum großen Glück wurde keine Strafe wegen Schwarzfahrens verhängt! Selbst eine Schmiergeldzahlung von dreißig Euro pro Person hätte die Angelegenheit preisgünstiger beglichen.
Doch im Bestreben, die erste Belastungsprobe mit Bravour zu bestehen wurde von illegalen Gleitmitteln abgesehen.

Psychophysischer Stress.
Das Sechspersonenabteil von München nach Paris war Gegenstand der zweiten Belastungsprobe. Natürlich bestückt mit sechs Personen. Heizung offenbar defekt. Also genau das, wofür der Dialekt meiner Heimat den Terminus “Oaschpartie” vorsieht. Dieser Ausdruck könnte auch auf so manch aktuelle Problematik der katholischen Kirche hinweisen, wird jedoch in diesem Kontext nicht verwendet. Entweder weil die Dialektsprecher zu katholisch sind um die heilige Mutter Kirche derart zu denunzieren oder weil ihre Gehirnaktivität sich an das Reformtempo dieser Kirche angepasst hat, oder weil die kirchliche Arschpartie von Katholiken als solche ebenso verleugnet wird wie von vielen Kirchenvertretern.

Uns im Sechserabteil strebte nach derartigen Kirchenbräuchen nicht der Sinn. Wenngleich auch die äußerst katholische Herkunft der Reisenden – drei Österreicher und drei Brasilianer – anderes vermuten lassen könnte.

Physischer Stress.
In Ermangelung der Idee, den Rucksack in einem Schließfach zu deponieren, musste die volle Last der reisebegleitenden Gegenstände auf den Schultern durch die Stadt der Liebe getragen werden. Was zu diesem Zeitpunkt von glühender Reiseeuphorie und dem Wunsch nach möglichst vielen Schnappschüssen locker kompensiert wurde, rächte sich am kommenden Tag in Form von Muskelverspannungen.

Dabei wuchs die Erkenntnis, meine Fitness wäre doch nicht mehr das, was sie mal hätte sein sollen. Werde ich angesichts dieses Trainingsstands den GR20 und meinen fb6c+ Attersee Boulder vielleicht doch erst 2011 einer positiven Erledigung zuführen können?
Die einzige kurze Pause wurde dem Slacklinen gewidmet. Die Line befand sich im Gepäck und wartete auf ihren Einsatz in bleau. Denn dort befand sich das eigentliche Reiseziel,
Fontainebleau – Bouldermekka dieses Planeten!
Das höchste Ziel der wichtigsten Pilgerreise im Leben eines kletternden Menschen.
Ich war gekommen um zu bouldern in der Meinung, Paris als Aufenthaltsort während der Regenerationstage zu nutzen.
Doch grâce à la pluie: Planänderung. Citytrip!
Kletterschuhe werden erst zuhause wieder ausgepackt. Die nächsten Tage werden zum Stadturlaub verwendet. Trotz unpassender Kleidung und unnötigem Gepäck ist die Entscheidung unumstößlich. Schließlich will auch das Interrailticket seiner eigentlichen Bestimmung gemäß verwendet werden.

Und ich werde endlich Barcelona sehen – steht ohnehin schon viel zu lange auf der todo-Liste.
Der Nachtzug nach Katalonien war rasch gebucht und die Herbergssuche für diese Nacht somit hinfällig.

-9

Bequeme umklappbare Sitze charakterisieren den französischen Zug nach Port Bou.

Dies ist der erste spanische Bahnhof. Hier enden alle französischen Züge. 1374 Menschen leben dort – noch. Sollten die beiden Länder den nationenverbindenden Charakter der Union européenne/Unión Europea einst erkennen und ihre transnationalen Bahnverbindungen entsprechend gestalten, wird das wohl negative Auswirkungen auf die Einwohnerzahl haben.

Im spanischen Zug herrscht noble Zurückhaltung. Die wenigen Gespräche zwischen den Reisenden werden geflüstert. Bei der Ankunft in der katalanischen Metropole werden wir von einer riesengroßen und strahlend weißen Bahnhofshalle empfangen. Welch Kontrast zu den Pariser Bahnhöfen. Dort wetteifern Soldaten mit Dreck um die Vorherrschaft der Wahrnehmung. Der Reisende weiß nie, ob er sich nun an einem Kriegsschauplatz oder auf einer Mülldeponie befindet. Ich bin nicht sicher, ob dies ein Geschenk an den Abenteuersuchenden sein soll oder bloß Ausdruck einer Identitätskrise der Pariser Bahnhöfe. Unterdessen sich der Président de la République française, Nicolas Sarkozy, um Findung der wahren französischen Nationalidentität bemüht, zeigt sich diese an Pariser Bahnhöfen schon lange.

Weiters umwirbt uns in der Estación Barcelona Sants ein Hostelvermieter in landestypischer zurückhaltend-aufdringlicher Art. So lautet unser erstes Etappenziel Pension Palacio Barcelona. Einchecken, duschen, und sofort weiter in die Ramblas.

Auf dem Weg dorthin sehe ich zum ersten Mal die Strandpromenade, Jaume I und die Kolumbusstatue. Der Erstkontakt mit dieser Stadt ist eine absolut intensive Erfahrung – etwas windig, mit Palmen und jede Sitzbank ist eine Sehenswürdigkeit!

Die Ramblas sind sowas wie ein Nadelöhr. Viel zu eng für all die Menschen, nichts besonderes eigentlich und dennoch drängt jeder in diese prachtvolle Fußgängerzone. Hauptattraktion sind hier die Menschenmassen die eine erdrückende Lebendigkeit erzeugen, keine niveauvolle Straßenkunst wird gezeigt, keine besondere Architektur und wenig Einkaufsmöglichkeiten sind vorhanden. Dies ändert sich sobald der Mercat la Boqueria erreicht wird.

Während die Ramblas die Hauptschlagader dieser Stadt darstellen, ist la Boqueria – naja – quasi der Magen. Obst & Gemüse, Käse und auch Fleisch wird verkauft. Nur der allerhärteste Asket würde hier widerstehen.

Die ersten Schritte im capital de Catalunya setze ich bedächtig, meine Blicke stets auf die Gebäudefassaden gerichtet, in der Hoffnung auf Überraschung. Ich habe keine Ahnung, wo sich Gaudís Kunstwerke befinden. Ich weiß nur, irgendwo in der Rambla muss was sein und könnte mir nie verzeihen, daran vorbeizusightseen. Erinnerungen ans Ostereiersuchen werden wach. Und tatsächlich, der Palau Güell ist zu gut versteckt um von mir gesichtet zu werden.

Schon am Plaça de Catalunya vorbeispaziert kommen arge Selbstzweifel und meine Reisebegleiterin kauft vorsichtshalber doch einen Bildband über Gaudí an einem Straßenkiosk. Doch gute 500 Meter später steht es vor mir, wie ein Alien aus einer anderen Wirklichkeit. Der Blick nach oben fasziniert und lehrt Demut vor der Genialität des katalanischen Meisters. Der Blick zum Eingang sagt mir: es frisst Menschen! Ja. Unzählige Exemplare der Gattung Homo Sapiens stehen Schlange. Einer nach dem anderen verschwindet im Inneren des Gebäudes doch nirgends kommen sie wieder heraus. Der Beschluss, das Gebäude lediglich von außen zu bestaunen, ist somit schnell gefasst. Viel später erst erfahre ich, dass ich tatsächlich die richtige Entscheidung getroffen habe denn das Gebäude symbolisiert wirklich einen Drachen.

Weitere Sehenswürdigkeiten, an diesem ersten Tag besucht, sind la Plaça Reial und dann doch auch Palau Güell.

Zu später Stunde wird der Versuch unternommen, von der Metrostation Verdaguer zum Temple Expiatori de la Sagrada Família zu gelangen. Hindernis: im district Eixample de Barcelona sieht alles gleich aus! Und mein von McDonalds gesponsorte Gratis-Stadtplan (alle McDonalds Filialen sind darin eingezeichnet!) bietet keine allzu große Orientierungshilfe.

Ein paar freundliche Passantenauskünfte später steht sie vor uns. Entgegen meinem Vorhaben, es der aufgehenden Sonne gleichzutun und mich von Osten zu nähern erblicke ich nun – froh darüber überhaupt hierher gefunden zu haben – zuerst die westliche Passionsfassade. Diese ist lange nach Gaudís Ableben entstanden und wirkt sehr schlicht. Im Uhrzeigersinn bewege ich mich über die Nordseite, wo dem Tempel gegenüber eine gut besuchte McDonalds Filiale ihre Kunden vergiftet, zur östlichen Geburtsfassade. Diese wurde noch zu Lebzeiten Gaudís fertiggestellt und stellt äußerst detailreich die Geburt Jesu dar. Mein Weg führt mich weiter über die Südfassade, mit deren Bau jedoch noch nicht begonnen wurde, und wieder zurück zum Park westlich des Tempels in dem sich zahlreich dubiose Gestalten herumtreiben.

-8

Der achte Tag vor dem Ausbruch meines Ausschlags steht ganz im Zeichen des Parkbesuchs.

Park Güell am Vormittag, la muntanya de Montjuïc de Barcelona am Nachmittag.

Einen Beschreibungsversuch des Park Güell würde ich beginnen mit der Darstellung von Barcelona als eine sehr vitale Stadt in der der Tourist den ganzen Tag verbringen kann, ohne merklich zu ermüden – sehr beeindruckend. Den Park Güell würde ich dann als den diesbezüglichen Superlativ bezeichnen. Meinem fehlenden Vermögen, mich in angemessener Form auszudrücken ist es zu verdanken, dass der Leser an dieser Stelle keine unnötigen Zeilen des Lobes findet. Vielmehr sei er dazu aufgerufen, bei Interesse, sich selbst einen Eindruck zu verschaffen indem er ebenfalls einen Tag oder einen Halben ebendort verbringen möge.

Am Nachmittag des selben Tages wird la muntanya de Montjuïc besichtigt. Zuerst führt der Weg zum Pavelló alemany. 1929 von Ludwig Mies van der Rohe für die Weltausstellung errichtet, beeindruckt mich dieses modernistische Bauwerk sehr, doch leide ich noch zu stark unter den Einwirkungen des Modernisme català, um nicht auch ein eigenartig befremdendes Gefühl zu empfinden beim Anblick des Symbols deutscher Präzision und industrieller Leistungsfähigkeit – nicht vergessen wir befinden uns im Jahre 1929, in der Weimarer Republik…

Um einer Überdosis Kultur zu entkommen lasse ich das Museu Nacional d’Art de Catalunya unbesichtigt und wende meine Schritte dem 184,8 Meter hohen Montjuïc zu. Dort befinden sich die Überreste der Olympischen Spiele von 1992. Unzählige Sportstätten in einem weitläufigen Gelände, perfekt geeignet auch zum Joggen und Mountainbiken, laden zur Aktiverholung ein. Auch der kreative Geist könnte in der Fundació Joan Miró Erholung finden. Mein Geist unterliegt zu diesem Zeitpunkt jedoch dem körperlichen Bedürfnis nach Nahrungsaufnahme und somit wird der kürzeste Weg richtung Stadtzentrum gesucht. Aber nicht gefunden. In einer langen Schleife irren wir durch Gegenden, die noch nie zuvor ein Tourist gesehen hat um dann doch noch in der Rambla Nahrung zu finden.

Am nördlichen Ausgang der Boqueria liegt “Maoz vegetarian”. Hier gibt’s vorzügliche Erdapfelstangen und das beste Falafel Europas, dazu feinste elektronische Musik – nicht selbstverständlich für einen Imbisstand. Und wir sind glücklich.

Am Abend erleben wir eine Sensation! Das Champions League Auswärtsspiel des örtlichen Fußballvereins gegen eine andere Mannschaft wird von der ganzen Stadt verfolgt. Wir finden eine Bar, hinter welcher ein Ire und eine Schwedin arbeiten. Wahrscheinlich die einzigen Menschen, die an diesem Abend nicht dem Fußballwahnsinn verfallen sind.

-7

Die Nacht verbrachte ich im Schlafsack auf einer Couch in der Rezeption unseres Hostels. Unsägliche Hustattacken meiner Reisegefährtin raubten ihr den Schlaf und hätten auch meinen verhindert, wäre ich nicht rechtzeitig ausgezogen.

Den Tag gilt es nun als Solist zu verbringen. Dies ermöglicht mir völlig freie Entfaltung. Planlos lasse ich mich treiben und komme am Picasso Museum vorbei, am Mercat Santa Caterina, an der escola de pastisseria, dem von Kindern belagerten museu de la xocolata (ja, auch Kinder können sich für Museen begeistern). Als nächstes Verfolge ich die Idee eines weiteren Kirchenbesuchs. Nahe dem Plaça Reial soll sich ein Hare Krishna Tempel befinden. Doch keiner der von mir gefragten Trafikanten und Oberkellner weiß etwas davon. Ein indischer Tellerwäscher ist zum entsetzten Erstaunen seiner vielen vorgesetzten Kollegen wissend und in der Lage, mir präzise den Weg dorthin zu beschreiben. Also finde ich zwischen indischen Fastfoodlokalen eine graffitiverschmierte Eingangstür welche vielmehr einen dahinter liegenden Gebetsraum als einen Tempel vermuten lässt. Meinem Habitus, nichts wirklich zu besichtigen, sondern mich mit einem kurzen Blick von außen und einem “ich war dort”-Erinnerungsschnappschuss zufrieden zugeben entsprechend, bin ich im Geiste schon wieder woanders und lasse dem auch gleich meine Schritte folgen. Zur Casa Milà sollen mich diese führen. Wiederrum versucht der McDonalds Stadtplan, mich am Erreichen meines Zieles zu hindern. Doch hilfreiche Menschen geben gute Auskunft – ein schwules Paar. Auffallend viele Homopärchen sind in dieser Stadt zu sehen. Die vor dem zwischen 1906 und 1910 erbauten Haus befindliche Menschenschlange impliziert eine ausschließlich äußerliche Besichtigung.

Am Rückweg komme ich an der Universität vorbei, hole Wasser am Font de Canaletes und spaziere kreuz und quer durch das Barri Gòtic.
Nach diesem erfrischenden Spaziergang von etwa 7 Kilometer (Luftlinie) kehre ich zurück um nach dem Befinden meiner immer noch hustenden Reisegefährtin zu sehen. Unser Hostelvermieter bietet freundlicherweise Tabletten an die auch nix nützen und so verlangen wir in einer Farmacia nach starken Medikamenten. Anschließend testen wir die husten lindernde Wirkung von Tequila, müssen jedoch feststellen, dass dieses Arzneimittel bei trockenem Husten ungeeignet ist. So hustet sie weiter und ich trinke allein.

Am direkten Heimweg verirren wir uns doch und kommen in die schmalen Gassen, vor denen wir gewarnt wurden. Einheimische wollen mit mir tanzen. Ich find’s lustig und springe mit meinem neuen Freund durch die Gassen. Nach einigen Metern besinne ich mich meiner Tanzphobie und sage ¡adiós!

-6

Nachdem ich nach der Uhrzeit gefragt worden bin und am Display meiner neuen Digitalkamera die nötige Information ablese, werde ich an diesem Tag erneut zum tanzen aufgefordert. Diesmal nüchtern, lehne ich dankend ab. Erst als sich von der anderen Seite ein weiterer tanzwilliger junger Mann nähert erkenne ich, was jeder minderbemittelte schon längst erkannt hätte. Diese dilletantischen Versuche, mich aus dem Gleichgewicht zu bringen, dienen der Ablenkung zum Zweck des clandestinen Besitztransfers!

Ich schäme mich.

Bereits zum zweiten mal sah jemand in mir leichte Beute! Warum denken diese Menschen, ausgerechnet bei mir reüssieren zu können? Ich muss dringend an meinem Auftreten arbeiten. Zur Sicherheit kontrolliere ich meine Wertgegenstände auf Vollständigkeit und stelle fest, eigentlich noch nie Gegenstände von Wert besessen zu haben. Dennoch kratzt allein der Gedanke daran, dass sie’s versucht haben, an meinem Ego! Da kann auch der Umstand, dass gestern ich, selbst im alkoholisierten Zustand, noch mit dem vermeintlichen Dieb herumgehüpft bin und dabei wahrscheinlich ihn selbst mehr herumgerissen habe als er mich, und den beiden, die mich heute attackieren wollten nicht die allergeringste Chance gelassen habe, nur wenig am ramponierten Selbstwertgefühl ändern.

Jetzt bleibt nur noch eins: Dem aus der Piefke-Saga bekannten Motto “Ich reise ab, ich reise sofort ab!” zu folgen und lieber das Ungemach des Regens als die Schmach der Demütigung zu ertragen. Zur Einstimmung auf die Kälte Nordeuropas halte ich meine Füße ins Salzwasser des hiesigen Strandes, schalte für kurze Zeit mein Mobiltelefon ein um Manu Chaos “Rumba de Barcelona” abzuspielen und stelle den für Stadturlaube überdimensionierten und viel zu vollen Rucksack bei “Maoz vegetarian” ab um mir in aller Ruhe ein letztes Mal deren göttliche Falavel einzuverleiben. Auf dem Weg zur Estació de Barcelona-Sants besuche ich die Casa Vicens, dann besteige ich den Regionalzug nach Cerbére.

Kerberos, der den Eingang zur Unterwelt bewacht, besser bekannt unter der englischen Schreibweise Cerberus, wird im Französischen Cerbère genannt. Der Ort Cerbére hat jedoch, so wird versichert, nichts mit dem Höllenhund Cerbére zu tun. Hier steigen wir um richtung Paris.

In diesem Media Distancia Renfe Zug von Barcelona nach Cerbére hatte ich eine Begegnung, die nicht unerwähnt bleiben soll. Möglicherweise liegt hier die Ursache meines Ausschlags.

Auf dem Weg in die Suburbios, die schäbigen Vororte der Großstadt, steigt eine ältere Frau mit zwei Kindern in den Zug, in welchem auch ich mich befinde. Außer uns reisen noch der Schaffner, zwei Sicherheitsleute, ein lesender Mann, zwei argentinische Rucksackreisende, ein negroider Strassenkünstler und ein junger Mittzwanziger aus der Unterschicht zu welchem sich eine Station später ein vermeintlicher Freund gesellt. Außer den eben genannten füllen weitere Reisende den Waggon bis auf den letzten Platz, doch niemand muss stehen.

Die seguridads stören eine junge Reisende beim Rauchen im Zwischenraum zweier Waggons. Die Stimmung ist angespannt.

Die beiden Kinder dieser ominösen Frau spielen mit Plastikstrohhalmen. Das Ältere wirft den Strohhalm mitsamt der Verpackung über die Schulter auf den Boden des Waggons. Nachdem weder Mutter noch spanisch sprechende Mitreisende reagieren, sehe ich mich veranlasst, auf das ungebührliche Verhalten der Kleinen hinzuweisen. Verbale Kommunikation ist aufgrund der Sprachbarriere nicht möglich, so fasse ich den Plan, habituale Korrektness zu demonstrieren und gehe hin, hebe den Mist auf und werfe ihn weg. Natürlich erwarte ich von der reisenden Mutter eine Reaktion ob der Beschämung welche ihr nun unmissverständlich widerfuhr, tomatenrote Gesichtsfarbe oder wenigstens ein “Gracias” wäre angebracht – doch nichts dergleichen geschieht. Nun essen die Kleinen. Chips aus Plastiksackerl. Nach wenigen Minuten befinden sich mehr Brösel am Boden als in ihren Mägen. Darauf folgt kindliches Geschrei und herumspringerei auf den Sitzen. Die katalanischen Reisenden und die beiden argentinischen Touristen verdrehen genervt die Augen. An dieser Stelle erscheint es mir sinnvoll, zu erwähnen, dass die katalanische Mentalität eine ausgeprägt noble ist, selbstbewußte Zurückhaltung prägt die Geisteshaltung dieses nicht-spanischen, nach Autonomie strebenden Volkes, eine augenverdrehende Mimik ist also schon Ausdruck höchster Erregnung!

Mahnende Worte zur Unterlassung weiterer Provokationen erreichen mich aus dem Munde meiner nun mehr angespannten als charmanten Reisebegleiterin. Die Worte “Diese Frau ist böse” vernehme ich mehrmals. Weiters werde ich von ihr darauf aufmerksam gemacht, von den Zugreisenden keine Hilfe erwarten zu können, falls es darauf ankomme. Wir als Touristen sind hier die Fremden und die tätowierten, hart, falls überhaupt arbeitenden Mittzwanziger würden stets auf der Seite ihresgleichen stehen als sich hinter uns zu stellen. Es herrscht absolute Stille im Waggon. Nur die Kinder schreien und die Mutter mit diesen. Ich denke, dass auch der inzwischen bis zum äußersten angepannte lesende Mann mehr Symphatie für mich als für die drei Quälgeister empfinden müsste, jedoch auch dieser auf weitere Provokationen meinerseits gut und gerne verzichten könne. Ich kalmiere mein Gemüt. Dann erblicke ich im Gang neben der Frau eine halboffene Sporttasche. Durch die Öffnung erkenne ich den Kopf eines Huhns. Bis zum Hals ist das arme Tier in Plastik gehüllt! Sobald ich meine Entdeckung kundgetan habe, werde ich aufgefordert, jetzt nicht zu photographieren. Ich, der ich bis dahin bereits 557 Reisedokumentationsphotographien angefertigt habe, sehe mich hingegen nicht imstande, von einer derartigen Aufnahme abzusehen – und drücke ab. Darauf folgt heftigstes Geschimpfe auf spanisch und eine Frage der Kleinen von der ich nur “ingles” verstehe. Sofort beginne ich mit ihr zu sprechen und versuche – auf Spanisch! – ihr klarzumachen, dass ich kein Engländer bin und auch kein spanisch spreche, frage sie, ob denn sie englisch spreche und reagiere auf die immer lauter werdende Mutter mit “no habla espaniol”. Schließlich gibt sie ihre Bemühungen, mich zu beschimpfen auf. Das einzige Wort, welches ich zu verstehen glaubte, war “pistola”. Die Aufforderung meiner Mitreisenden nach Unterlassung weiterer Provokationen wird erneuert, stößt jedoch bei mir auf wenig Gegenliebe. Der Zug fährt weiter, allgemeine Beruhigung kehrt ein, die Kinder beginnen wieder damit, sich von der allerungezogensten Seite zu zeigen. Erschrocken muss ich feststellen, im Moment der Beschimpfungen gegen mich, äußerst nervös geworden zu sein und eine deutliche Unbehaglichkeit vernommen zu haben. Das ältere der beiden Kinder schlägt nun auf den argentinischen Reisenden ein. Ich erkundige mich nach der spanischen Übersetzung für “Mahlzeit” um die Frau, sobald sie den Zug verließe, gebührlich zu verabschieden – der Blick in mein Wörterbuch wird mir verboten.

Die Mutter zieht nun das Huhn aus der Tasche und reicht es dem kleineren ihrer beiden Kinder welches unverzüglich damit beginnt, an den Kopffedern zu ziehen – eine unmissverständliche Geste der Provokation gegen mich. Nur um dem Tier weiteres Leid zu ersparen versuche ich, das Schauspiel zu ignorieren.

Als meine strapazierte Begleiterin die Zugtoilette aufsucht, sei es, um diese ihrer Bestimmung gemäß zu verwenden, oder sei es auch nur der wenigstens kurzen Flucht wegen, setze ich die von mir mitgeführte Mineralwasserflasche an meinen trockenen Mund in der Absicht, diesen sowie auch meine Kehle mit dem geschmacklosen Getränk zu befeuchten. Würde ich des südamerikanischen Dialektes der spanischen Sprache mächtig sein, denn das Erscheinungsbild der Frau, die ihr Huhn soeben noch von ihrer Tochter terrorisieren ließ, läßt auf eine Herkunft aus den höheren Regionen der Anden schließen, hätte ich gewiß einen über mich verhängten Fluch verstehen können. So liegt es im spekulativen Bereich der bloßen Vermutung, dass die Worte, welche in meine Richtung gesprochen wurden, just zum dem Zeitpunkt, an dem ich zum Trinken ansetzte, einen über mich verhängten Fluch darstellen würden. Und ich trank. Mir dabei denkend, was soll mir das anhaben? Das zum Zeitpunkt der Beschimpfungen gegen mich empfundene Gefühl gründlich ignorierend forderte ich alles heraus und trank nochmals.

-5

Ankunft in Paris, Gare Austerlitz. Regen. Einzige Fluchtoption: diverse Regionalzüge Richtung Amsterdam. Der Nachtzug ist ausgebucht. Nach mehrmaligem Umsteigen erreichen wir um 19uhr die Flachlandmetropole. Am Bahnhof Amsterdam Centraal glauben wir, uns auf einer Mülldeponie zu befinden. Sofort erkundigen wir uns nach einer Zugverbindung die uns wieder wegbringt. Egal wohin. Ergebnis: Morgen Abend fahren wir nach Prag. Für diese Auskunft mussten wir zuerst einen Zettel mit einer Nummer ziehen und im völlig menschenleeren Infocenter nach dem Schalter suchen, über welchem die Zahl angezeigt wurde, die mit der Nummer auf unserem Zettel übereinstimmte. Nur diese eine der vielen unterbeschäftigten Auskunftspersonen welche unter der Tafel mit der Korrekten Nummer ihre Arbeit verrichtete war nun bereit, uns die gewünschte Auskunft zu erteilen. Selbiges irrationales Prozedere in der tourist information, wo wir versuchten, ein Hotelzimmer zu finden. Dort jedoch waren wir nicht in der Lage, einen Zettel aus der Zettelausgabemaschine zu erhalten, welcher eine die Auskunftspersonen befriedigende Nummer aufgedruckt hat. Ohne Nummer keine Auskunft. Ohne Auskunft kein Hotel.

Es regnet. Wir steigen in eine Strassenbahn. Die Karte erwerben wir im Fahrzeuginneren. Hier leistet ein Fahrkartenverkäufer wertvolle Dienste in einem verglasten Kartenverkaufshäuschen. Ein solches findet sich in jeder Strassenbahn. Also in jeder Garnitur arbeitet ein Fahrer und ein Fahrkartenverkäufer! Vermutlich können sich die Niederländer über Vollbeschäftigung freuen.

An der Eingangstür des ersten Hotels, an welchem wir vorbeikommen, erblicke ich ein Schild auf welchem auf ein Verbot von Drogen im Haus hingewiesen wird. Da stellt sich unweigerlich die Frage, wer in einem Land, wo das Rauchen von Marihuana völlig legal ist, Drogen braucht!

In einem weiterem Hotel, dem ersten welches wir betreten um uns nach einem freien Zimmer zu erkundigen, wird mir von der freundlichen und asiatisch aussehenden Rezeptionistin erklärt, dass es unmöglich sei, heute, bereits acht Uhr abend, in irgendeinem Hotel dieser Stadt Einlaß zu erhalten. Sie wünscht mir noch “all the best” und fügt in einem die Aussichtslosigkeit unserer Bemühungen implizierenden, jedoch zur Zuversicht zu ermutigen versuchenden Tonfall hinzu “really!”. Die Ausbeute der darauf folgenden Herbergssuchodyssee beschränkt sich auf einen Stadtplan. Kein Zimmer. Nirgends. Nach fast 24-stündigen Zugfahrten von Barcelona nach Amsterdam beschließen wir, die verlorene Zeit des Nächtens zurückzuholen und beginnen unsere sightseeing-tour kurz vor zehn Uhr Abend. Nach kurzer Zeit macht sich die Erkenntnis breit – breit ist eine treffliche Beschreibung des Gefühls in dieser Stadt – hier sähe alles gleich aus. Speziell im nächtlichen Regen. Grachten soweit das Auge reicht – und es reicht bloß stets von einer Gracht zur nächsten.

Die den Wachzustand beenden sollende Idee eines Nächtigungsversuchs am Flughafen kommt gegen dreiuhrdreißig und beweist sich um sechsuhrdreißig als durchaus praktikabel.

-4

Der zweite Tag in der Grachtenstadt ist mir als regnerisch in Erinnerung geblieben. Viel mehr fällt mir nunmehr, da ich diese Zeilen schreibe, nicht mehr ein. Um neun Uhr Abend steigen wir in den Zug nach Prag und verlassen diesen bis dahin auch nicht, wenngleich auch die Möglichkeit bestünde, um halb fünf in Berlin oder etwas später in Dresden, an das ich noch immer in großer Begeisterung zurückdenke, auszusteigen. Doch da halbfünf zu früh ist und ich Dresden eben schon besucht habe, bleiben wir dem ursprünglichen Plan treu, und fahren bis Prag.

-3

Die goldene Stadt an der Moldau offeriert uns sofort ein Hotel. Imperiales Hauptstadtflair kennzeichnet diese Stadt, völlig gegensätzlich zu Amsterdam, unzählige Jazzlokale und die vielen Kamerageschäfte! Hier können gebrauchte Kamers von Micro- bis Großbildformat erworben werden. Dazu die nötigen Chemikalien zur Schwarz-Weiss-Filmentwicklung. Ein Paradies für mich. Doch ich entschliesse mich zu Kaufverweigerung und drücke weiterhin den Auslöser meiner neuen Digitalkamera. Immerhin ist sie wenigstens ausgestattet mit einem Leicaobjektiv – soviel sei zu meiner Verteidigung vorzubringen.

Prag ist sehenswert. Eine schöne, alte, europäische Stadt eben. Doch richtig beeindruckend zeigt sie sich dem Besucher erst in der Dunkelheit. Goldverzierte Barockbauwerke und mittelalterlich wirkende Türme und Türmchen erstrahlen in nächtlicher Beleuchtung wesentlich imposanter. Außerdem führt die selektive Beleuchtung der als von der Stadtverwaltung für interessant befundenen baulichen Objekte den Betrachter zu ebenjenen, vermeintlich interessanten Punkten der Stadt. Wobei es nicht zu vergessen gilt, das das wahre Interesse den Dingen gelten soll, welche sich im Schatten verbergen. Doch davon gibt’s in Prag nicht viel. Diese Stadt scheint nur goldene Seiten zu haben.

-2

Die Schattenseiten zeigen sich erst bei der Abreise im Zug. Am Stadtrand. Dort wo keiner der vielen Oldtimer, in welchen sich Touristen durch die Altstadt chauffieren lassen, hinfährt, befinden sich Müllberge inmitten der Landschaft. Ich werde erinnert an Zeiten wie ich sie auch in meiner Heimat erlebt habe. Als ich ein Kind war, erblickte der Gedanke des Umweltschutzes das Licht der Österreichischen Öffentlichkeit. Hainburg und Zwentendorf prägten den Zeitgeist. Viel Pionierarbeit wurde geleistet und noch mehr Dreck und Müll produziert. Fünfundzwanzig Jahre später denkt auch noch niemand an Müllvermeidung, doch hätte jeder ein schlechtes Gewissen, würde er seinen Kühlschrak im Wald entsorgen. Vielleicht ist die von vielen Ausländern gelobte, saubere Umwelt in Salzburg bloß ein Ergebnis der gutfunktionierenden Abfallentsorgungsindustrie welche neben der Tourismusindustrie eine der Gewinnträchtigsten hierzulande ist.

-1

Bei der Ankunft in Salzburg Hbf um einuhr morgens stellen wir fest, dass dieser nicht mehr ist. Des Hauptgebäudes als Orientierungshilfe beraubt, gelangen wir zu spät zum Bahnsteig, an dem wir den letzten Regionalzug richtung Innergebirg nur noch nachblicken können. Knapp mehr als fünf Stunden später erreichen wir den Bahnhof Bischofshofen, an welchem die Reise neun Tage zuvor begann. Und auf welcher ich mir irgendwo diesen unsäglichen Ausschlag geholt habe. War es das Hotelzimmer in Prag, in dessen Bett ich unbekleidet schlief? Waren es Verunreinigungen im Wasser einer der wenigen Duschen die ich während dieser neun Tage nahm?
Oder war es doch der Fluch?